Glockenturmzwiebel - die heimatkolumne

Mit der Schwarzen Anna nach Berlin


Der Verkehrsausschuss des Bundestages befasste sich im vergangenen Herbst mit einem für Neuenhagen wichtigen Thema. In dem Gremium wurde der potenzielle Bedarf der Ostbahn für den Verkehrswegeplan des Bundes festgestellt. "Ein erster wichtiger Schritt, dass der Bund endlich die Ostbahn wahrnimmt“, urteilte dazu in der Märkischen Oderzeitung Frank Schütze von der Interessengemeinschaft Ostbahn. Wenig später wurde die Strecke dann zwar dennoch nicht von der Europäischen Union ins Transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-V) aufgenommen. Aber trotz dieses Rückschlages dürfte die Eisenbahnstrecke in den kommenden Jahren erneut als Verbindung für den Güter- und Personenverkehr über Brandenburg und Polen hinaus bis ins Baltikum aufleben. Mindestens aber bis ins Nachbarland. Beides ist für Neuenhagen von enormer Bedeutung. So wie vor 150 Jahren.

Als ab 1. Oktober 1867 auf dem 64 Kilometer langen Schienenstrang Gusow-Strausberg-Berlin bis zum Ostbahnhof die Züge rollten, war das zugleich der letzte fertiggestellte Abschnitt der mehr als 700 Kilometer langen Eisenbahnverbindung bis nach Ostpreußen. Neuenhagen als Station hatte jetzt einen Bahnhof und erlebte von da an eine Wandlung. Das bisherige märkische Angerdorf mit bereits 600-jähriger verbriefter Geschichte mauserte sich innerhalb weniger Jahrzehnte zum boomenden Berliner Vorort. Die Einwohnerzahl stieg von 550 im Jahre 1875 auf über 4500 fünfzig Jahre später. Rings um den Bahnhof entstand ein neues Ortszentrum mit Geschäften, Handwerk, Betrieben wie zwei kleinen Ziegeleien, einer Töpferei und einer Ofenkachelfabrik. Auf dem Gelände entstand nach dem zweiten Weltkrieg das Landmaschineninstandsetzungswerk (LIW), das heutige Gewerbezentrum am Rosa-Luxemburg-Damm. 


Arbeiter, Angestellte, Beamte, Rechtsanwälte und Lehrer zog es nach Neuenhagen ins Grüne. Eine kleine bezahlbare Scholle und eigene vier Wände waren das Ziel.  Die Neubürger fanden im Ort Arbeit oder pendelten mit der Schwarzen Anna, wie der Dampflok-Zug im Volksmund hieß, zum Broterwerb in die Hauptstadt. Ebenso wichtiger Katalysator wie die Eisenbahn war die Galopprennbahn Hoppegarten, die ebenfalls von 1868 an Tausende an den Wochenenden zu den Renntagen nach Hoppegarten zog. Die allermeisten von ihnen kamen mit den Zügen auf der Ostbahn bis zum eigens errichteten Rennbahnhof.

Der Zweite Weltkrieg bedeutete für die Bahnverbindung die Zäsur. Die Ostbahn fiel für den Fernverkehr in die Bedeutungslosigkeit. Erst zu Pfingsten 1991 rollte wieder der erste zivile Personenzug über die Grenze ins benachbarte Polen.

Für die Neuenhagener spielte das in den vergangenen Jahrzehnten kaum eine Rolle. Nachdem die S-Bahn seit 1930 bis Mahlsdorf fuhr, ist Hoppegarten seit März 1947 mit der Elektrischen erreichbar. Neuenhagen seit August des folgenden Jahres. Ein zweites Gleis bis nach Strausberg ist seither Zukunftsmusik.

Es ist die Ostbahn-Trasse, auf der die S 5 zwischen Strausberg und Ostbahnhof rollt. Wenn die Ostbahn eine neue Blüte erlebt, nimmt der Zugverkehr zu und werden die beschrankten Bahnübergänge an der Haupt- und Niederheidenstraße immer drängender in Frage gestellt.

Unabhängig davon soll der Bahnhof Neuenhagen neu gestaltet werden, vielleicht auch wieder eine bewachte Fahrradaufbewahrung erhalten, wie Bürgermeister Ansgar Schranke jüngst in seiner Kolumne schrieb. Rotkäppchen, wie die Zugabfertiger auf den Bahnsteigen auch genannt wurden, sind allerdings ein für allemal Geschichte. „Zurückbleiben, bitte!“ hieß es auf dem S-Bahnhof Neuenhagen letztmalig vor 25 Jahren, am 31. Dezember 1998.

Autor: Siegfried Wagner/Fotos: Archiv Kai Hildebrandt