Glockenturmzwiebel  

Neuenhagener Straßen (Teil 2/3)


Bei der Wahl ihrer Namen hat man die Hauptstraße schon immer herausgestellt. Einst Sandweg vorbeiführend an den Feldern zum benachbarten Bollensdorf gab man ihr 1893, bis zum Mühlenfließ, den Namen Neuenhagener Allee. Eigentlich bekamen die Straßen vom Stern beginnend den Namen der Orte, zu denen sie führten wie zum Beispiel Niederheidenstraße, Dahlwitzer Straße oder Hönower Chaussee. Anstelle der, hier der Ordnung einhaltenden Bezeichnung Bollensdorfer Allee, setzte man stattdessen dem Ort mit einem Straßennamen selbst eine symbolische Ehrung. Auch ihr zweiter Name „Königs Allee“, den sie 1914 bekam, war nicht weniger hervorhebend. Und letztlich stellt der aktuelle Name „Hauptstraße“ sie über die anderen Straßen, wenn auch nur vom Namen her.

Hauptstraße um 1910 


Ihre eigentliche Geschichte beginnt, wie einiges in Neuenhagen, mit der Errichtung der Ostbahn. Nach der Eröffnung der Strecke 1866 setzt die Besiedlung des Bereichs rund um den Bahnhof ein. Während die Hauptstraße bereits 1870 anscheinend befestigt ist, sind die Straßen rechts von ihr, also Fichtestraße (damals noch Dottistraße, benannt nach dem Amtsvorsteher George Leopold Dotti) und die Schmidt Straße erst noch in Planung. Vom Bereich um die heutige Ernst-Thälmann-Straße ist damals noch gar nichts zu sehen.

Die Zeichen der neuen Zeit hatte damals bereits der Bauer Friedrich August Wolter erkannt und 1876 neben dem Viehmarkt seinen Gasthof errichtet. Auch das Gebiet um den Bahnhof sieht anders aus als zur DDR-Zeit oder heute. Vor dem Bahnhofsgebäude, das zwischen den Gleisen stehend die Reisenden auf der Bollensdorfer Seite empfängt, befindet sich auf der Neuenhagener Seite ein kleiner Park. Dort, wo heute die S-Bahn fährt, ist eine Ladestraße die 1936 den Namen Eisenbahnstraße bekommt, während die heutige gleichnamige Straße die Poststraße war. Trat man also damals aus dem Bahnhof und folgte dem Weg rechts entlang den Schienen, so kam man genau und geradewegs zum Gasthof Wolter. Gleich links daneben befand sich einst die „Posamentier- und Wollwarenhandlung“ von Elise Zander. Unter dieser heute ausgestorbenen Bezeichnung versteht man den Handel mit Schmucksachen, zum Verschönern von Möbeln und Kleidungen. Also Fransen, Borten, Quasten und weiteres.

Später befindet sich dort unter anderen die Druckerei und Schreibwarenhandlung von Max Petzold. Im Juli 1996 wurde das Haus abgerissen. An dieser Stelle steht heute ein Wohn- und Geschäftshaus. Auf der anderen Straßenseite hatte einst das im Jahr 1910 errichtete und ab 1919 vom Bäckermeister Otto Geier genutzte Haus seinen Platz. Dort befanden sich eine Bäckerei und Café mit einem wunderschönen Saal, einer Veranda und einer Gaststube. Nach dem Krieg dann Tanz-Café genannt, hört man aber noch heute oft den Begriff „Café Geier“ bei Gesprächen um den alten Standort.

Hauptstraße um 1915

Gleich an der nächsten Ecke befand sich der Kolonialwarenladen von Heinrich Dechousa. Gegenüber an der Ecke wohnte Georg Liesegang in einer Villa, neben seinen Werkstätten. Dort entstanden Fensterrahmen und Scheuerleisten. Liesegang war auch als Sachverständiger, Maurer- und Zimmermeister tätig. Wie schon sein Vater hat auch er vielfältig im Ort seine Spuren hinterlassen. Übrigens hieß die heutige Jahnstraße einstmals Zimmerstraße. Zu Ehren des Turnvaters Jahn benannte man sie dann später um.

Auf dem Weg in Richtung Stern beziehungsweise liegender Acht passieren wir die Schmiede von Adolf Krebs, heute eine Pension und daneben den ehemaligen Laden von Hermann Valentin. Dieser hatte das Haus 1905 errichteten lassen. Viele kennen hier noch die Schreibwarenhandlung von Berthold Ludwig dessen Sohn den Schreibwarenladen in der Rudolf-Breitscheid-Allee lange Jahre führte.

Gleich gegenüber, dort wo heute das „Kinder- und Jugendtanzensemble Neuenhagen“ seinen Sitz hat war einst das „Edda Lichtspiele“-Kino. 1937 eröffnet, bot es vielen Generationen von Neuenhagenern Unterhaltung. Etwas weiter erreichen wir einen von drei großen Grundstücksbesitzern, die hier einst ansässig waren. 1913 ließ Simon Alfred Freiherr von Oppenheim, Bankier und Unternehmer, seinen nach amerikanischem Vorbild entworfenen Rennstall errichten. Viele der dort vorhandenen modernen Einrichtungen waren ein Novum in der Reihe der Rennställe. Elektrischer Strom, Brause- und Wannenbad sowie verschiedene Einrichtungen in der ungewöhnlichen Reithalle waren damals etwas Besonderes. Zu jener Zeit einmalig:  In der Halle waren eine Reitbahn und etwa 25 Boxen untergebracht. Dort, wo heute die Lahnsteiner Straße von der Hauptstraße abzweigt, befand sich einst die Einfahrt zum Oppenheim-Grundstück.

Nachbar zur linken war Albert Schumann. Dieser hatte von George Leopold Dotti um 1918 seine um 1900 errichtete Villa als Altersruhesitz erworben. Schumann war mit seinen Zirkusgebäuden in Berlin, Frankfurt am Main und Wien für seine Pferdedressuren und Zirkusveranstaltungen weltberühmt. Dort wurden oftmals pompös dargestellte geschichtliche Ereignisse vorgeführt. Um 1930 ließ er sein Anwesen, was von den Kleinbahngleisen bis zum Oppenheim Rennstall reichte, parzellieren. Jene Straßen die damals in diesem Gelände angelegt wurden bekamen rheinische Namen. Koblenzer, Mannheimer, Speyer, Rüdesheimer und Wormser Straße sind jene davon. Die heutige Lahnsteiner Straße wurde noch eine ganze Weile als verlängerte Gartenstraße bezeichnet, bevor auch sie umbenannt wurde. Die ehemalige Dotti Villa kam 1940 in den Besitz der BEAG (Bata Ein- u. Die Ausfuhrgesellschaft m. H.) einem Tochterunternehmen, des bis heute in Familienbesitz international agierenden Schuhunternehmen Bata (ausgesprochen Batja und in der tschechischen original Bat´a geschrieben).

Blick in die Fichtestraße um 1935 


Nach dem Krieg befinden sich dort unter anderen ein Kindergarten und eine Sonderschule. Gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite entsteht ab 1929 die von Stadt und Land ausgeführte und von Max Thormann initiierte Reihenhaussiedlung „Grüner Winkel“. Neben dem Schumann-Gelände und der ab 1928 begonnenen Parzellierung von Bollensdorf, dass dann 1929 in Neuenhagen eingemeindet wurde, entstanden fast gleichzeitig drei große Wohnprojekte auf Neuenhagener Boden. Berühmtester Mieter und dritter im Bunde der Weltberühmten war der Schriftsteller Hans Fallada der in der Hausnummer 10 von 1930 bis 1932 lebte und hier den Weltbestseller „Kleiner Mann – was nun?“ schrieb. Gleich dahinter hatte einst der Schlossermeister Gustav Bürger seine Autowerkstatt. Ihm gegenüber befand sich der Bäckermeister Alfred Schindler mit seiner Backstube. Zu erwähnen wäre noch der Klempnermeister Julius Huth und daneben das Haus und die einstige Werkstatt des Wagner- und Stellmachermeister Richard Lenz. Direkt daneben befand sich an den Gleisen auf der rechten Seite der einzige Bahnhof der Kleinbahn auf Neuenhagener Gebiet. Man sollte aber hierbei in kleinem Umfang denken, da es sich nur um eine einfache Bretterbude handelte. Der Fleischermeister Alexander Schnürpel, vormals Liebe und der Laden des Töpfermeisters Wilhelm Bürger bilden den Abschluss dieses kleinen Rundgangs.

 

Autor: Kai Hildebrandt, Ortschronist/Fotos: Archiv Kai Hildebrandt